Fragestellung

Was hat die Episode eines Hundes, der vor Publikum unglaubwürdige Kunststücke vollführen kann, in einem spätantiken Werk der Universalgeschichte zu suchen? In seiner Weltchronik, verfasst im 6. Jahrhundert n. Chr., spannt der Autor Johannes Malalas den Bogen von der biblischen Geschichte bis in seine eigene Zeit. In seiner Geschichtserzählung reiht er thematisch kaum aufeinander bezogene Episoden aneinander, sodass sich die Frage nach dem roten Faden der Erzählung stellt. Aber auch spätantike Geschichtswerke, die eine fassbarere Erzähllinie bieten, wie etwa Prokops Perserkriege, bieten zahlreiche Abweichungen von der Haupterzähllinie. Für solche spätantiken Geschichtswerke stellen sich nun folgende grundsätzliche Fragen: Warum bauten die Autoren in ihre Geschichtswerke immer wieder abschweifende Passagen ein, die nicht unbedingt notwendige geographische oder mythische Zusatzinformationen bieten? Wie lassen sich unglaubwürdig erscheinende Wundererzählungen wie die über den begabten Hund mit den historischen Tatsachenberichten vereinbaren, mit denen man ein Geschichtswerk eigentlich verknüpft? Nach welchen Gesichtspunkten also stellten die Autoren ihre Texte zusammen und für welches Publikum schrieben sie solche Werke?

Textcorpus

Diese zentralen Fragen sucht das Projekt durch die Analyse der Erzählform der Digression – des Exkurses, der Abschweifung – zu beantworten. Gegenstand der Forschung ist eine repräsentative Auswahl spätantiker griechischer Geschichtswerke vom 5. bis zum frühen 7. Jahrhundert n. Chr. Diese sind drei unterschiedlichen, jedoch nicht streng voneinander getrennten Gruppen zuzuordnen: (1.) Schriften, die sich am Muster klassisch-antiker Geschichtswerke orientieren und eine Epoche, ein Thema oder bestimmte Akteure behandeln; es sind dies die Werke der Autoren Zosimos, Prokopios, Agathias und Theophylaktos Simokattes; (2.) Chroniken, also Universalgeschichten wie die Weltchronik des Malalas, die die Geschichte von der Erschaffung der Welt aus christlicher Perspektive bis in die Zeit des Autors erzählen; und (3.) Kirchengeschichten, die ebenfalls eine christliche Sichtweise auf das historische Geschehen bieten und sich besonders für die Entwicklung der noch jungen christlichen Kirche und ihrer Institutionen interessieren; namentlich sind dies die Schriften des Sokrates, Sozomenos, Theodoret von Kyrrhos, Philostorgios und Euagrios Scholastikos.

Innovation

Erstmals werden nun diese Schriften, die oftmals noch kaum erforscht und meist als bloßes historisches oder religionsgeschichtliches Quellenmaterial verstanden wurden, als literarische Werke betrachtet. Ziel des Projekts ist es, die Erzähltechniken, Formensprachen und stilistischen Ausformungen der spätantiken griechischen Geschichtsschreibung zu erfassen und erklärbar zu machen. Die Ergebnisse der Projektarbeit werden neue Erkenntnisse für die unterschiedlichen Fachbereiche Klassische Philologie, Alte Geschichte, Byzantinistik und Literaturwissenschaft bringen.

Bibliographie (in Auswahl)

  • Allen, Pauline 1981. Evagrius Scholasticus the church historian, Leuven.
  • Bäbler, Balbina 2001. “Der Blick über die Reichsgrenzen: Sokrates und die Bekehrung Georgiens”, in: Bäbler / Nesselrath 2001, 159–181.
  • Bäbler, Balbina / Heinz-Günther Nesselrath (eds.) 2001. Die Welt des Sokrates von Konstantinopel: Studien zu Politik, Religion und Kultur im späten 4. und frühen 5. Jh. n. Chr. zu Ehren von Christoph Schäublin, München / Leipzig.
  • Baumann, Mario / Vasileios Liotsakis (eds.) 2024. Digressions in classical historiography, Berlin / Boston.
  • Bleckmann, Bruno 2015. “Techniken tendenziöser Historiographie: Philostorgius und die Traditionen profaner Geschichtsschreibung”, in: Wallraff 2015, 133–152.
  • Bleckmann, Bruno 2021. Die letzte Generation der griechischen Geschichtsschreiber. Studien zur Historiographie im ausgehenden 6. Jahrhundert, Stuttgart.
  • Bleckmann, Bruno / Markus Stein (eds.) 2015. Philostorgios: Kirchengeschichte, 2 vols., Paderborn.
  • Borsch, Jonas / Oliver Gengler / Mischa Meier (eds.) 2019. Die Weltchronik des Johannes Malalas im Kontext spätantiker Memorialkultur, Stuttgart.
  • Bouffartigue, Jean 2001. “Le texte de Théodoret et le texte de ses document”, in: Pouderon / Duval 2001, 315–327.
  • Brodka, Dariusz 2004. Die Geschichtsphilosophie in der spätantiken Historiographie. Studien zu Prokopios von Kaisareia, Agathias von Myrina und Theophylaktos Simokattes, Frankfurt a.M. et al.
  • Brodka, Dariusz / Michał Stachura (eds.) 2007. Continuity and change: studies in late antique historiography, Kraków.
  • Cameron, Averil 1969/1970. “Agathias on the Sassanians”, Dumbarton Oaks Papers 23/24, 67–183.
  • Cameron, Averil 1970. Agathias, Oxford.
  • Cameron, Averil 1985. Procopius and the sixth century, London et al.
  • Cameron, Averil (ed.) 1989. History as text: the writing of ancient history, London.
  • Carrara, Laura / Mischa Meier / Christine Radtki-Jansen (eds.) 2017. Die Weltchronik des Johannes Malalas: Quellenfragen, Stuttgart
  • Cesa, Maria 1983. “Etnografia e geografia nella visione storica di Procopio di Cesarea”, Studi Classici e Orientali 32, 189–215.
  • Chesnut, Glenn F. 1977. The first Christian histories: Eusebius, Socrates, Sozomen, Theodoret, and Evagrius, Paris.
  • Chrysanthou, Chrysanthos S. 2024. “Digressions in Herodian’s History of the Empire”, in: Baumann / Liotsakis 2024, 273–307.
  • Colvin, Ian 2013. “Reporting battles and understanding campaigns in Procopius and Agathias: classicising historians’ use of archived documents as sources”, in: Alexander Sarantis / Neil Christie (eds.), War and warfare in late antiquity, vol. 2, Leiden, 571–597.